Liebe Familie Gärtner, liebe Freundinnen und Freunde, liebe  Weggefährtinnen von Vanessa,

wir sind heute hier auf dem Friedhof in Alt-Stralau, um von Vanessa Gärtner Abschied zu nehmen. Sie alle sind/ ihr alle seid aus verschiedenen Himmelsrichtungen hergekommen,  Menschen, die Vanessa in unterschiedlichen Lebensphasen, Arbeitszusammenhängen und Freundeskreisen kennengelernt und begleitet haben, die viel Schönes mit ihr unternommen haben und sie sehr gern hatten. Viele standen ihr bei in ihrem dramatischen Kampf gegen eine rätselhafte Krankheit,  haben sie unterstützt, so gut es ging. Dafür möchte ich Ihnen/euch danken.

Vor zwei Tagen erst wäre Vanessa 49 Jahre alt geworden. Im vergangenen Jahr sah es so aus, als könne sie wieder schwungvoll mit ihrem blauen Fahrrad um die Ecken düsen und es ginge aufwärts. Vanessa besuchte ihre Familie, leitete wieder einen Kunstkurs für Kinder und knüpfte an alte und neue Freundschaften an. Dann jedoch kippte die Situation. Über den Winter versagten die Medikamente, es traten neue oder um vieles stärkere alte Symptome wieder auf, sie verlor immer mehr an Gewicht und Kraft und Zuversicht, nicht zuletzt an Vertrauen in die vage Aussicht auf eine wirkliche Hilfe durch unser Gesundheitssystem. Am 5. oder 6. März zog sie die Konsequenz aus ihrer verzweifelten Lage und entschied sich endgültig, ihrem Leiden ein Ende zu setzen.

Der tiefe Schock, den diese Nachricht unter uns allen auslöste, die diese schöne, kluge, warmherzige, neugierige und unternehmungslustige Frau kannten, ist seither in allen Gesprächen gegenwärtig. Es wird lange dauern, bis wir etwas Abstand zu der tieftragischen Seite ihrer Geschichte gewinnen werden.

Mir scheint es nicht angemessen, ihre Schmerzen und das wachsende Gefühl der Ausweglosigkeit unerwähnt zu lassen, also all die Gefühle, mit denen sie trotz aller helfenden Hände mit sich und ihrem rebellierenden und zusammenbrechenden Körper allein war.

Und doch taucht in all dem Schrecken und der Trauer um Vanessa noch etwas Anderes auf, das ich gern in den Mittelpunkt meines Andenkens stellen möchte. Selbst in der tiefsten Verzweiflung und bei aller radikalen Abkehr von der Welt, die ihr letztlich nicht zu helfen verstand, entwickelte sie eine bewunderungswürdige, bis zum Letzten gehende Willensstärke und Konsequenz – und in der finde ich die Vanessa wieder, die ich siebzehn Jahre lang als meine Freundin kannte, die mich oft überraschte und in ihrer Eigenwilligkeit und ihrem Eigensinn anzog.

Mit diesem Grundgefühl möchte ich ein paar persönliche Momente in meiner Würdigung mit euch teilen – und weil sie nur persönlich sein können, lasse ich ab jetzt das förmliche Sie beiseite. Ich erhoffe mir, dass ihr mit eigenen Erfahrungen und Erlebnissen andocken könnt. Viele Freunde und Freundinnen von Vanessa habe ich erst nach ihrem Tod kennengelernt. Das erzählt, wie gern sie in unterschiedlichsten Szenen und Netzwerken unterwegs war und sich darin wohlfühlte. Daher gibt es sicher sehr viele Geschichten mit ihr und über sie – die eine oder andere hören wir später hier in der Kirche und draußen am Grab.

Vanessa verbrachte ihre Kindheit in der kleinen niedersächsischen Stadt Wallenhorst nahe Osnabrück. Sie war  – so höre ich von ihrer Mutter Ulrike – ein sehr ruhiges aber auch zielstrebiges Kind, denn was sie wollte, setzte sie auch durch. Ihre Begabung in Richtung Malen und Zeichnen war schon früh erkennbar. In der neunten Klasse kam nach einem Praktikum erstmals bei ihr der Gedanke auf, dass sie Richtung Theater und Kunst arbeiten wollte.

Nach dem Abitur absolvierte sie aber zunächst ein freiwilliges soziales Jahr in einer großen Hamburger Klinik. In Hamburg lernte sie den Besitzer eines kleinen Theaters kennen und ab da stand für sie fest, dass sie Theaterwissenschaft studieren wollte, und zwar im lebendigen Berlin und nicht im hanseatisch langweiligen Hamburg. Sie schrieb sich für das Fach an der Humboldt Universität ein, später beendete sie dieses Studium mit einer Master-Arbeit  über die Subkultur der Gothic- Szene, für deren Musik und kreative Aneignung alter Horrorfilme – eben all die Codes einer punkigen Abgrenzung von der Yuppie-Kultur – sie sich interessierte. Eine düstere, schaurig-romantische Faszination für Tod und Vergänglichkeit hatte Vanessa schon als Jugendliche in der Grufti-Szene gepackt, wie sie später gern erzählte. Lebenslang bevorzugte sie schwarze Outfits und in ihrer Wohnung stapelt sich heute eine ganze Sammlung von Büchern rund um die Geschichte und Kultur der Beschäftigung mit dem Tod – obenauf ein markanter Totenschädel.

Jetzt, wo mir schwerfällt, von Vanessa Abschied zu nehmen, wird mir bewusst, wie gut sie darin war, die widersprüchlichsten Eigenschaften und Eigenheiten ohne Übertreibung oder Eitelkeit in sich zu vereinen.

Nach dem Theaterwissenschaftsstudium, wollte sie ans Theater, in die Praxis als Bühnenbildnerin, aber ihre Bewerbungen trugen ihr nur Jobs als Kulissenschieberin ein. Deshalb begann sie ein zweites Studium an der Kunsthochschule Weißensee. Ein Jahr lang bereitete sie sich mit einer Mappe für die Aufnahmeprüfung vor – später gab sie gern hilfreiche Tipps dafür weiter – und schaffte es am Ende, dort anzufangen. Dass sie als eine von zehn Personen unter  rund tausend  BewerberInnen angenommen wurde, überzeugte auch ihre Eltern, denn anfangs hätte vor allem ihr Vater es lieber gesehen, wenn sie sich einen „bürgerlichen Beruf“ ausgesucht hätte.

Man muss sich ihr Leben in der neuen Szene alles andere als abgehoben vorstellen. Vanessa verdiente lange Zeit einen Teil ihres Lebensunterhalts in der ambulanten Altenpflege. Mit dem blauen Rad fuhr sie kreuz und quer durch Kreuzberg und Treptow und versorgte bettlägerige alte Leute. Ihre sprichwörtliche Geduld und Aufmerksamkeit, ihr feines Gespür für fremde Menschen und ihren Alltag wurden dabei sicher auf die Probe gestellt, aber sie beklagte sich nie darüber, sondern wuchs in diese Lebenserfahrungen hinein.

Was allerdings passierte, hatte früh mit körperlicher Überforderung zu tun. Lust auf die Arbeit mit Leuten, Lust auf kreative Aktionen, das führte bei ihr immer wieder zu Problemen mit ihrem Rücken und undefinierbaren Schwächezuständen. Als Jugendliche hatte sie leidenschaftlich gern Ringtennis gespielt, später wirkte die Belastung dieses schnellen Sports auf ihren schmalen Körper nach.

Ich lernte Vanessa 2007 ausgerechnet in einer Rehaklinik kennen. Sie kam mit lahmendem Bein aufgrund von Bandscheibenproblemen in den Speisesaal, ich mit einer neuen Hüfte. Wir wurden an einen gemeinsamen Tisch gesetzt, unterhielten uns jeden Tag besser und blieben Freundinnen.

Vor älteren Leuten hatte Vanessa keinerlei Berührungsängste. Noch letztes Jahr besuchte sie in Zehdenick Lieselotte Peters, eine ihrer im wahrsten Sinn des Wortes ältesten Freundinnen, die sie ebenfalls bei einem Krankenhausaufenthalt kennengelernt hatte.

Sehr wichtig war Vanessa die enge Verbundenheit mit ihrem Vater. Jedes Jahr unternahm sie eine mehrtägige Radtour mit ihm und kam immer mit einem Sack voller guter Reisetipps und toller Naturerlebnisse zurück. Es gibt sicher tausend schöne Beispiele für ihr Talent, das Geben und Nehmen in der Beziehung zu Anderen für alle Seiten angenehm zu gestalten. Bei mir kamen zum Beispiel die Pflanzennamen und Pflegetipps gut an, die sie bei ihrem Vater für mich erfragte. Wie wir alle wissen entwickelte sie in den vergangenen fünf Jahren mit derselben Neugier eine ganze Enzyklopädie ihrer Kenntnisse über Zecken, Zeckenbisse und bakteriologische Infektionen durch diese Bisse.

Geben und Nehmen, das wusste sie gut zu verbinden: Vanessa vergaß keinen Geburtstag, sie kam oft mit wunderbaren kleinen Geschenken an, zum Beispiel mit selbstgebackenen Cantuccini, natürlich aus Dinkelmehl, oder winzigen Schmucktäschchen, einem Mini-Kaktus und selbstgebrannten Musik-CDs. Dinge, die von ihrem leisen Humor erzählten.

Für ihre Abschlussarbeit über Bühnenbilder zu Theaterfassungen von Ödön von Horvaths Roman Jugend ohne Gott bat sie vor Jahren um Rat. Dann wieder lud sie ins Theater Daktylus ein, wenn dort eine Premiere mit ihren Klappmaulpuppen zu sehen war. Sie leitete theaterpädagogische Projekte an Schulen, bot wunderbar zugewandt ihre Kunst-Workshops für Kinder an und arbeitete mehrere Jahre in den Ferienprogrammen des Kinderzentrums FEZ. Nebenher war sie eine Zeit lang in der Familienhilfe in Neukölln als Patin eines kleinen türkischen Jungen sehr engagiert. Oft war ich nahe daran, sie zu fragen, ob sie sich nicht selbst Kinder gewünscht hätte. Man konnte den Eindruck gewinnen, aber Beziehungen waren nicht leicht für sie, und es sollte nicht sein.

Fast dreißig Jahre lebte Vanessa in Berlin. Sie war gut verankert in ihren unterschiedlichen Freundeskreisen. Es hätte so weitergehen und mehr werden können. Erst im vergangenen Jahr, nach der Veröffentlichung des schönen Buchs „Ins Blaue – Ein poetisches Spektakel“, zu dem sie viele originelle zarte Tuschzeichnungen  beigetragen hatte, stellte sie sich mit einer neuen Homepage als professionelle Illustratorin und Zeichnerin im Internet vor. Da gab es Hoffnung auf einen Neustart. Aber seit 2019 war das Arbeiten schwer geworden, die Folgen ihrer rätselhaften Infektion belasteten sie mehr und mehr und absorbierten die immense Energie, mit der sie bis fast zuletzt finanzielle Unterstützung für die Behandlung suchte. Mit ihrer Lieblingslyrikerin Mascha Kaleko ließe sich sagen: Das Glück ist arm an Phantasie. / Sein Repertoire ist ziemlich klein; / Das Unglück aber – ein Genie! / Ihm fällt stets etwas Neues ein.

Jetzt hast du uns zurückgelassen, Vanessa! Wir versuchen, mit der Trauer zu leben. Nie werde ich deinen charakteristisches Ausruf Jo!!! vergessen, mit dem du eine feste Verabredung bekräftigt hast.

Claudia Lenssen

Wenn Ihr Vanessas Grab besuchen wollt, hier noch eine kurze Beschreibung, wie Ihr es auf dem Friedhof in Berlin Alt-Stralau findet:

Vanessas Grab liegt zwischen der kleinen Dorfkirche und der Kapelle. Die Kirche im Rücken blickt man auf eine Hecke, dahinter befinden sich zwei Reihen mit Urnengräbern. Das Grab ist in der zweiten Reihe. Solange es noch keinen Grabstein gibt, kann man sich am Grab links daneben orientieren (schwarzer Grabstein, Günter Kaiser), oder an der Grabnummer UWR-07-109.